Hauch
Ein Gespräch mit Rebecca Saunders und Frances
Das Ensemble Modern blickt auf viele Jahre intensiver Zusammenarbeit mit der Ausnahmekomponistin Rebecca Saunders zurück, deren Werke es in verschiedenen Porträtkonzerten präsentiert hat. Gemeinsam mit der international renommierten Choreografin und Tänzerin Frances Chiaverini wird Saunders etliche Solowerke und ein Duo um choreografische Module erweitern; das Ergebnis ist die Collage ›Hauch‹, die am 4. November 2021 beim ›Festival NOW!‹ in der Philharmonie Essen von Mitgliedern des Ensemble Modern und Tänzer*innen uraufgeführt wird. Gleich zu Beginn ihrer Zusammenarbeit traf der Tanz- und Theaterwissenschaftler David Rittershaus die beiden Künstlerinnen, um über ihre Gemeinsamkeiten und ihre modulare Herangehensweise zu sprechen.
David Rittershaus: Das ist Ihre erste Zusammenarbeit. Wie kam es zu dem gemeinsamen Projekt, und was interessiert Sie an der Arbeit der jeweils anderen?
Rebecca Saunders: Ich habe schon mehrfach mit Choreografie gearbeitet, und das ist etwas, das ich in meiner Arbeit deutlich ausbauen möchte. Ich sagte mal zu Christian Fausch – dem Künstlerischen Manager und Geschäftsführer des Ensemble Modern, mit dem ich in regelmäßigem Austausch zu verschiedenen Projekten bin, ich würde wirklich gern einmal bereits existierende Solostücke nehmen und sie mit choreografischen Modulen zu einer Musik- und Tanzcollage kombinieren. Das würde auf meinen früheren Arbeiten mit räumlichen, polyphonen Installationen aufbauen. Ich wollte eine Choreografin oder einen Choreografen einladen, eigene modulare choreografische Elemente einzubringen und all diese Musik mit Tanz zu verbinden. Es gibt kein Narrativ, keine Geschichte. Es ist ein Dialog zwischen Protagonisten, oder Körpern, die sich in zwei sehr unterschiedlichen Medien artikulieren, und es geht auch darum, nach Ähnlichkeiten dieser Medien zu suchen. Christian schlug Frances vor: eine ausgezeichnete Idee. Frances fasste sofort eine ausgeprägt modulare Gestaltung der Tanzelemente ins Auge, ganz unabhängig von meinen Ideen, und das passte perfekt zu den Vorstellungen, die ich entwickelt hatte. So war ich sehr glücklich darüber.
Frances Chiaverini: Unsere Ideen existierten bereits ganz ähnlich in unseren Köpfen, bevor wir sie einander mitteilten. Und ich denke, das sagt schon viel. Immerhin kann eine Zusammenarbeit auch sehr schwierig sein. Es ist wirklich großartig, bereits eine gemeinsame Basis zu haben, bevor man überhaupt anfängt. Rebecca schickte mir all diese Tracks, die meisten Videos, und mir wurde sofort klar, dass Rebecca eine sehr starke Vorstellung davon hat, wie die Stücke schon im Raum leben, wie sie von den Ausführenden, der Anordnung und der Instrumentierung verkörpert werden. Ich bin wirklich gespannt, wie wir diese Ideen zusammenfügen können. Eine Collage. Ich glaube, »Collage« ist der perfekte Begriff dafür, wie wir vorgehen möchten und was wir zu erreichen hoffen.
RS: Wir stellen uns beide etwas Abstraktes vor. Ich habe Solostücke und ein Duo ausgewählt, und diese Werke haben alle eine sehr fokussierte und reduzierte »Klangpalette«, oder Fragmente von Klängen und Klangfarben. An Frances’ Hintergrund und ihrer Arbeit hat mich sehr interessiert, auf welche Weise sie ein reduziertes physisches Vokabular erforscht, um das Wesentliche einer bestimmten körperlichen Geste zu bestimmen – so dass diese dann zur Manifestation eines ganzen Stückes werden kann. Viele meiner Solos und Duos kreisen wieder und wieder um das Gleiche. Sie haben etwas durchaus Obsessives, auch wenn es leise, fragile Stücke sind, und besonders, wenn sie cholerisch sind.
DR: Rebecca Saunders, Ausgangspunkt für die Produktion sind existierende Stücke, planen Sie denn auch, dazwischen Übergänge zu bauen?
RS: Manche der Stücke werden nebeneinandergestellt, manche können gekürzt oder aufgeteilt werden, und später am Abend fortgesetzt werden.
FC: Ich habe mir heute eine Reihe Tracks angehört und dabei etwas sehr »Rohes« gemacht, und ich hoffe, du bist nicht beleidigt, Rebecca. Du sprachst davon, die Stücke nebeneinanderzustellen. Also habe ich zwei YouTube-Videos aufgemacht und beide gleichzeitig gehört, was überhaupt nicht koscher ist, aber dem, was es sein könnte, recht nahekommt.
RS: Ja.
FC: Und so habe ich mir eben vorgestellt, wie das vielleicht zusammen sein könnte – denn wir haben demnächst ein großes Arbeitstreffen, bei dem hoffentlich viele dieser Dinge klarer werden, eben auch, wie wir vorgehen wollen. Ich hab’ mir nur vorgestellt, es wäre wirklich schön, sich gemeinsam hinsetzen zu können – was wir leider nicht können –, eine große Rolle Papier zu nehmen und einfach zu zeichnen, fast so wie wenn man ein Video bearbeitet.
RS: Nun, tatsächlich genauso werde ich ohnehin die Form definieren: Ich werde eine Collage zeichnen, ich nenne das eine Timeline, eine Zeitleiste, und jedes Solo oder Duo ist einer horizontalen Linie zugeordnet. Die Collage ist keine musikalische Partitur, zeigt jedoch das Nebeneinander der verschiedenen musikalischen Module – und schließlich natürlich auch der Tanzmodule. Einige der Kompositionen können gesplittet, in zwei oder drei Teile geteilt und von anderen Stücken überlagert werden. Es gibt ein Schlagwerksolo, das aus acht verschiedenen Modulen besteht, die wir beliebig kombinieren und anordnen können. Das gibt uns auch enorme Flexibilität beim Gestalten der gesamte Collage. Und die Tänzer*innen werden dieser Collage weitere Linien hinzufügen.
FC: Genau. So möchten wir auch die Tanzteile gern behandeln. Ich plane, mit vier Tänzer*innen zu arbeiten, die ebenfalls Choreograf*innen sind. Es war mir sehr wichtig, solche Tänzer*innen auszusuchen und mit ihnen zu arbeiten, die eine eigene choreografische Vision und klare Ansichten haben, wie sie auftreten möchten, also eine starke Stimme in diesem Prozess haben. Ich möchte, dass sie damit genauso umgehen wie mit eigenen Solos, die sie erfinden: Nennen wir sie Module, kleine choreografische Stücke, die wir dann schneiden, kopieren, verschieben oder umstellen können.
DR: Was die Idee der Collage angeht: Gibt es bereits Material, das dort eingearbeitet wird, oder andere Module, die bereits existieren? Was ist der Ausgangspunkt für die choreografische Arbeit mit Ihren Co-Choreograf*innen?
FC: Ich habe natürlich meine eigenen Vorstellungen, wie ich anfangen möchte. Ich möchte mit jedem Tänzer, jeder Tänzerin einzeln und mit zwei von ihnen als Paar arbeiten. Aber ich bin mit meinen Ideen nicht verheiratet. Wenn die Tänzer*innen diese Ideen aufgreifen und in eine andere Richtung entwickeln möchten – oder sie nehmen, sie ausprobieren und verwerfen, wenn sie nicht funktionieren, und etwas anderes versuchen –, dann sind wir für all das offen.
DR: Sie sagten, Ihnen sei eine Art Körperlichkeit in den Stücken aufgefallen. Sie haben auf die Körper und die Bewegungen der Musiker*innen geachtet. Ist das etwas, worüber Sie auch nachgedacht haben, als Sie sich die Videos der Stücke angesehen haben?
FC: Das ist sehr schwer zu fassen. So etwas hängt von vielen Dingen ab: Je nachdem ob ich gerade gegessen habe oder nicht, wenn ich mir das anschaue, fallen mir andere Dinge auf. Und wenn ich gerade etwas im Fernsehen gesehen habe, das mir noch im Kopf herumgeht, könnte auch das meine Wahrnehmung beeinflussen.
RS: Aber gilt das nicht für jede künstlerische Erfahrung? Was wir jeweils in die Hör- und Seherfahrung einbringen, ist einzigartig. Es ist immer noch schwer, exakt zu definieren, was wir hier tun. Der ganze Prozess hat etwas sehr Fragiles: Wir arbeiten mit Solos und Duos, und so könnte man sagen, wir arbeiten mit einer »collage of soliloquies«, einer Collage aus Selbstgesprächen – oder wir arbeiten mit einer Collage von Personen, die sich denselben visuellen, akustischen und architektonischen Raum teilen. Es ist ein komplexes Netzwerk aus Dialogen. Und jedes Solo singt gewissermaßen sein eigenes Lied.
FC: Ich mag das Wort »soliloquy«, Selbstgespräch, ...
RS: Wege zu finden, wie diese »soliloquies« nebeneinander bestehen und aufeinander wirken können, zwischen ihnen einen Dialog zu kreieren und ein strukturelles Format zu entwickeln – das ist eine spannende Herausforderung. Die Musik selbst hat eine starke Körperlichkeit. Und die enorme Körperlichkeit ihrer choreografischen Arbeit hat mich sehr gereizt, mit Frances zu arbeiten. Ich hoffe, dass diese Körperlichkeit sowohl in der Musik wie im Tanz für das Publikum höchst präsent sein wird.
DR: Ich weiß nicht, ob Ihnen das auch so geht, aber für mich hatten die Aufführungsvideos alle eine gewisse Intimität, eine intime Qualität. Vielleicht liegt es daran, dass die meisten Solos sind. Korrespondiert das mit dem, worüber Sie gerade sprachen? Ist das auch eine Qualität, mit der Sie vielleicht in der Aufführungssituation arbeiten möchten?
FC: Das ist schwer zu sagen, denn ich denke dabei sofort an den ersten Raum, für den wir das produzieren: die Philharmonie in Essen. Das ist ein schöner, sehr beeindruckender Raum, aber es gibt dort eine solche Distanz zwischen den Zuschauer*innen und dem Geschehen!. Es wird in jedem Fall eine Herausforderung sein, eine physisch intime Verbindung zwischen Publikum und Aufführenden herzustellen.
RS: Ich kenne den Raum. Er hat eine ausgezeichnete Akustik. Der Saal ist aus Holz, und obwohl er sehr groß ist und diese gewisse Nacktheit einer formalen Umgebung für klassische Konzerte hat, ist er sehr warm. Wir haben schon darüber gesprochen, dass wir unser eigenes Licht mitbringen möchten: So können wir ein Aufführungskonzept entwickeln, das sich leicht und schnell verschiedenen Aufführungssituationen anpasst. Dieses portable Beleuchtungssystem ermöglicht uns auch, eine intimere Umgebung zu schaffen.
DR: Sie erwähnten vorhin, dass in einigen Wochen ein langes kreatives Arbeitstreffen stattfindet. Wie beeinflusst die Coronavirus-Situation zurzeit Ihre Arbeit und Planung?
RS: Ich finde es frustrierend. Wir können uns nicht treffen, um gemeinsam unsere Ideen zu entwickeln und die Collage zu gestalten. Zweifellos ist es ein ganz anderer Prozess, wenn man nicht im selben Raum arbeitet, aber wir passen uns an. Es ist wichtig, nicht zu viel festzulegen, bevor wir uns alle im August zum ersten Mal treffen. Ich werde eine vorläufige musikalische Timeline entwerfen, eine Collage, die das Nebeneinander der verschiedenen Stücke abbildet. Diese muss Frances so viel Flexibilität wie möglich geben, so dass, wenn wir uns dann treffen, die Collage genügend Spielraum bietet, um unerwartete Dinge zuzulassen und sich im Lauf der Zusammenarbeit zu entwickeln.
FC: Der Meinung bin ich auch. Ich versuche, Onlineproben mit den Tänzer*innen zu machen, was Vor- und Nachteile hat. So kann ich so viel Zeit wie möglich mit ihnen verbringen – weil Tanz Zeit braucht. Vor dem ersten persönlichen Treffen im August möchte ich jedes Tanzmodul entwickelt haben.
DR: Die Produktion trägt den Titel ›Hauch‹, was auch der Titel eines der darin enthaltenen Musikstücke ist. Ist der Titel vor allem mit diesem Stück verbunden oder verweist er auch auf eine übergeordnete Idee?
RS: Ich finde, »Hauch« ist ein wunderbares Wort, eines, das im Englischen keine genaue Entsprechung hat. Es ist ein sehr altes deutsches Wort. Besonders interessant ist, dass es unzählige leicht unterschiedliche Bedeutungen hat, je nachdem, worauf es sich bezieht. Auf Englisch kann es »a trace of a thing«, »a touch or a hint of a thing«, »a tinge«, »a whisper or breath of something«, »a shadow«, »an aura or a glimmer of something hidden just beneath the surface« bedeuten; also eine Spur von etwas, eine Note, eine Andeutung, eine Nuance, ein Flüstern oder Atmen, ein Schatten, ein Schimmern von etwas, knapp unter der Oberfläche verborgen, und »Hauch« deutet auch eine Berührung an. Das Wort ist, auf Deutsch: eine »Andeutung«, es impliziert. Es geht um Nuancen, um Timbre. Es ist einer meiner wenigen deutschen Titel. Ich mag die Fragilität, die Zartheit dieses Wortes, um ehrlich zu sein. Obwohl ich denke, dass in der Collage vieles vielleicht nicht so fragil sein wird. Wir werden sehen.
DR: Jetzt, wo Sie all diese Konnotationen erwähnen, kann ich sie deutlich mit einigen anderen Ihrer Stücke verbinden und mit vielem von dem, was Sie gerade angesprochen haben. Ich danke Ihnen beiden sehr für dieses Gespräch.