CONNECT – Das Publikum als Künstler
10 Fragen an Catherine Milliken
›CONNECT – Das Publikum als Künstler‹ löst Hierarchien zwischen Publikum und Interpret*innen auf und stellt das Publikum ins Zentrum. Die europaweite Initiative, ermöglicht durch die Art Mentor Foundation Lucerne, wurde 2016 als Kooperation vier führender Ensembles zeitgenössischer Musik – Ensemble Modern, London Sinfonietta, Asko|Schönberg und Remix Ensemble – ins Leben gerufen und erstmals durchgeführt. Für die dritte Auflage 2021 erging der Kompositionsauftrag an Catherine Milliken. Die in Australien geborene Komponistin und Oboistin, einst Gründungsmitglied des Ensemble Modern, komponiert seit 1990 Musiktheater-, Instrumental- und Kammermusikwerke, Hörspiele, Installationen, Theater- und Filmmusik. In ihrem neuen Werk ›Night Shift‹, das Shakespeares ›Sommernachtstraum‹ zum Ausgangspunkt nimmt, bezieht sie spielerisch das Publikum, einen Laienchor und das Instrumentalensemble mit ein. Die Uraufführung findet mit dem Ensemble Modern am 1. September 2021 im Rahmen des Musikfest Berlin in der Berliner Philharmonie statt. Weitere Aufführungen sind im Anschluss mit den Partnerensembles in London, Amsterdam und Porto sowie 2022 mit dem Ensemble Modern beim Festival ›cresc... – Biennale für aktuelle Musik Frankfurt Rhein Main‹ zu erleben. Das Ensemble Modern stellte Catherine Milliken 10 Fragen zu diesem außergewöhnlichen Projekt.
›CONNECT – Das Publikum als Künstler‹ lautet der Titel des Projekts. Die Grenzen zwischen Interpret*innen und Zuhörer*innen verschwimmen. Was bedeutet das für deine Rolle als Komponistin? Was hat dich an dem Projekt interessiert?
Wenn wir uns verschiedene dadaistische Veranstaltungen an der Wende zum 20. Jahrhundert anschauen, die die Wahrnehmung des Publikums herausforderten, und dann in die 1960er Jahre springen, als Augusto Boal das Theater als Raum der Teilhabe begriff und Gruppen wie Cornelius Cardews Scratch Orchestra mit offenen Partituren arbeiteten – dann stellen wir in der Tat fest, dass sich die Grenzen zwischen Interpret*innen und Zuhörer*innen in fast allen Genres der darstellenden Künste schon lange langsam auflösen. Das Publikum einzuladen, an verschiedenen musikalischen Aktionen teilzunehmen, ist immer noch in gewisser Weise eine Herausforderung, für das Zuhören ebenso wie für das Aufführen von Musik; die Grenze aufzulösen, die beides traditionellerweise trennt, ist nicht so leicht.
Als Komponistin genieße ich die Herausforderung, kollektiv etwas zu schaffen, gemeinsam musikalische Resultate zu erforschen. Das bedeutet, dass man verschiedene Fähigkeiten braucht und entwickeln muss: Workshops anzuleiten, zuzuhören und sich einzulassen auf die Vorstellungskraft anderer; es bedeutet, Urheberschaft zu teilen und demokratische Beziehungen zu ermöglichen – ebenso wie die Freude daran, sich verschiedene Zugänge und neue Formate auszudenken.
Ich fing mit Fragen an: Wie kann man Partizipation so gestalten, dass sie sich nahtlos zwischen Zuständen des Hörens und des Teilnehmens bewegt und es allen erlaubt, teilzunehmen, zu kreieren, aufzuführen und zuzuhören? Wie schafft man ein Konzertstück als in sich geschlossenes Werk, das auf viele unterschiedliche Bühnen und in diverse Kontexte passt? Wie kreiert man ein Werk, das die Freude weckt, es gemeinsam aufzuführen? Vor allem aber, wie schreibt man eine Komposition, die offen ist, mit Fenstern für Improvisation, für kollaborative Komposition oder unbekannte Ergebnisse, und die trotzdem die Aufmerksamkeit und Konzentration aller aufrechterhält?
Der Auftritt der Handwerker in Shakespeares ›Sommernachtstraum‹, die sich treffen, um ein Stück zu proben und aufzuführen, ist historisch gesehen vielleicht das erste Mal, dass auf der Bühne das künstlerische Spiel von Laien in den Fokus rückte. Inspiriert von diesem Stück innerhalb eines Stücks entwickelte ich gemeinsam mit dem Librettisten Patrick Hahn die Idee für ›Night Shift‹, das die Situation einer öffentlichen Probe nutzt, um eine Aufführung zu entwickeln, die an jedem Ort, zu jeder Zeit oder bei jeder Präsentation einzigartig sein wird. ›Night Shift‹ enthält Bezüge zu Figuren aus dem ›Sommernachtstraum‹ – zum Beispiel die Handwerker, Königin Titania, Puck und die Elfen – und wird von den teilnehmenden Ensemblemusiker*innen, zwei Solist*innen, einer Dirigentin, einem Laienchor und dem Publikum kreiert.
Arbeitest du während des Kompositionsprozesses mit den vier Ensembles zusammen? Wenn ja, wie?
Jedes Ensemble vorher zu kennen und mit jedem zu arbeiten ist sicherlich von Vorteil, da einige der Aufgaben für die Musiker*innen improvisatorisch sind. Eine der Hauptaufgaben in den Proben mit den Ensembles wird sein, diese Rollen mit den Mitwirkenden zu diskutieren und zu proben. Gleichzeitig werde ich mit den jeweiligen Laienchören in jeder Stadt Workshops abhalten, in denen sie ihr eigenes Lied mit mir komponieren.
Neben dem Austausch mit den Ensembles steht vor allem die Kommunikation und Interaktion mit dem Publikum im Vordergrund. Wie wird das Publikum in das Konzertgeschehen eingebunden?
›Night Shift‹ hat die Form einer gelenkten Probe, die auf einem Skript basiert, und die von der Dirigentin, den Musiker*innen oder dem Publikum geleitet wird – mit Interventionsmöglichkeiten für alle. Die Beteiligung des Publikums umfasst das Improvisieren mit Musikinstrumenten, den Gebrauch der Stimme und die theatralische Einflussnahme, auch kreative Schreibimpulse. Das Publikum wird mal mit dem Laienchor, mal mit den Musiker*innen agieren und manchmal auch eine unabhängige Rolle spielen. Die Solist*innen und die Dirigentin sind die Schlüsselfiguren, die die Beiträge aller Beteiligten verbinden. So fluktuiert das Stück zwischen dem Charakter eines Workshops, einer Probe und einer Aufführung.
Wie erfolgt die »Vorbereitung« des Publikums?
Zur Vorbereitung wird es für das Publikum eine kurze Einführung geben, um die Instrumente, Lieder oder Aktionen kennenzulernen. Aufgrund der Covid-19-Beschränkungen ist es schwierig vorherzusehen, welche Art von Intervention zulässig sein wird: Dürfen wir mit unseren Stimmen arbeiten? Dürfen wir Instrumente und Klangobjekte verteilen? Dürfen wir uns während der Aufführung im Saal bewegen? Aufgrund der Flexibilität der Partitur und aufgrund der Situation, dass die Aufführung quasi als Probe stattfindet, bin ich jedoch zuversichtlich, dass wir für alle Einschränkungen, die sich ergeben können, eine Lösung finden werden.
Wie groß ist der Gestaltungsspielraum des Publikums? Wie ist das Verhältnis zwischen festgelegten und durch das Publikum beeinflussbaren Elementen?
Ein Stück wie ›Night Shift‹ zu schreiben ist spannend, weil es eine Herausforderung ist, aktive Mitwirkung und Kreativität zu ermöglichen und gleichzeitig ein durchstrukturiertes Stück Musik zu präsentieren. Seine Konstruktion erlaubt, wie bereits erwähnt, allen Mitwirkenden gleichermaßen – Musiker*innen, Solist*innen, Chor, Publikum – in die Rolle aktiver Zuhörer*innen und aktiver Interventionist*innen einzutauchen, sowohl individuell als auch als Gruppe. In kontinuierlichem Fluss zwischen Phasen der Aktivität oder der Reflexion tragen alle Mitwirkenden so dazu bei, die Atmosphäre und Bedeutung dieses Moments zu gestalten und zu kreieren.
Wie gehst du mit dem Faktor des Ungewissen – der Unberechenbarkeit des Publikums – um?
Obwohl wir bei ›Night Shift‹ für alle Mitwirkenden eine ganze Reihe von möglichen Interventionen haben, ist es wichtig, die unterschiedlichen Wahrnehmungen, Gefühle und Reaktionen des Publikums zu respektieren und zu antizipieren. ›Night Shift‹ ist so konzipiert, dass sich das Publikum entscheiden kann, aktiv mitzuwirken, indem es Sitzplätze auswählt, bei denen ein Instrument platziert wurde – oder eben nicht. Und natürlich kann das Publikum auch frei entscheiden, ob es an anderen Interventionen teilnimmt – mit der Stimme oder eigenen Textbeiträgen oder durch Entscheidungen über den weiteren Verlauf des Stücks.
Was wäre, wenn das Publikum die Interaktion verweigern würde?
Jede Person hat das Recht zu entscheiden, ob sie teilnehmen möchte oder nicht. Das ist in die Dramaturgie von ›Night Shift‹ bereits eingebaut, da sie Momente der Reflexion und Momente möglicher Aktivität enthält. Sowohl das Zuhören als auch das Tun sind Möglichkeiten der Beteiligung: Die Aufführung ist nach den Vorstellungen des Skripts immer eine Aufführung aller.
Dein Stück wird in kurzer Folge in vier europäischen Städten aufgeführt. Vermutest du, dass das Publikum aufgrund verschiedener kultureller Herkunft und Hörerfahrungen auch unterschiedlich agiert und reagiert?
In unserem Kontext ist die Frage nicht nur, ob sich die Intention übertragen lässt, sondern auch, ob sich ihre Form so übertragen lässt, dass sie zu jeder Stadt passt. Ich tendiere dazu, das zu bejahen! Und das hat mit der umfassenden Allgemeingültigkeit von Shakespeares Originalstück zu tun, aber auch mit der Universalität des Klangerzeugens und Musizierens, des Versuchs, gemeinsam etwas zu kreieren.
Welche Erwartungen hast du an die Aufführungen? Unterscheiden sich deine Erwartungen von denen bei einem herkömmlichen Konzert?
Das Stück wird sich so entwickeln, wie es die Mitwirkenden und das Publikum gemeinsam in Echtzeit entscheiden. Ich hoffe, dass Publikum wie Mitwirkende ihre Freude daran haben und auch den Zauber erleben, wenn sie an ›Night Shift‹ teilnehmen.
Wie wichtig sind bei diesem Projekt Social Media?
Für dieses Projekt bietet Social Media die Möglichkeit, Zugänglichkeit und das »connecting«-Potenzial zu beeinflussen. Wir sind noch am Entwickeln – jedoch begrüße ich die Möglichkeit, weitere Aktionen im Bereich Social Media im Zusammenhang mit dem Stück vor oder nach der Aufführung anzugehen.