Entwurf einer klingenden Kartografie
Das Ensemble Modern im Gespräch mit Pascal Dusapin über sein Projekt ›Lullaby Experience‹
Herr Dusapin, in Ihrem neuen Projekt geht es um Lieder, um Kinderlieder, um Wiegenlieder – ein Thema, das Ihnen nahe ist?
Meine Beziehung zum Kinderlied reicht weit zurück. Sie ist unmittelbar an meine musikalische Laufbahn geknüpft. Schon früh, als ich zu komponieren begann, habe ich einige kleine Lieder komponiert, keine Kinderlieder im eigentlichen Sinn, aber eine Art Wiegenlieder in einigen Strukturen der Musik. Und auch in einigen Stücken und sogar in meiner ersten Oper findet man Arten von Lullabies, die aber keine Zitate, sondern richtige Eigenschöpfungen sind.
Interessant ist für mich der Aspekt des Tabus: In der zeitgenössischen Musik spielte die Melodie lange Zeit keine besondere Rolle, das war nichts Modernes. Man verstand unter der Melodie etwas Nostalgisches, etwas, was mit Musikgeschichte zu tun hatte, und diese Haltung fand ich schon immer dumm – nicht zuletzt, weil ich seit jeher Melodien sehr liebte. Ich weiß nicht, warum eine Melodie nichts Modernes sein kann, und ich sehe in Bezug auf ein Kinderlied auch überhaupt nichts Archaisches oder Reaktionäres. Ganz einfach: Es ist wirklich für mich die Essenz selbst der Idee von Musik, der emotionale Kern jener Aktivität, die uns zur Musik führt. Es gibt etwas Geniales innerhalb dieser Melodien, und das ist immer der Ton. Es liegt etwas zutiefst körperlich Menschliches darin – es geht um die menschliche Stimme, um Klang, um Worte, um Sprache. Vor einigen Tagen habe ich zum Beispiel eine albanische Melodie für das Projekt ›Lullaby Experience‹ erhalten. Die Sprache verstehe ich überhaupt nicht, um so interessanter ist es zu sehen, bis zu welchem Punkt die Melodie substanziell mit der Sprache selbst verbunden ist, als Struktur des Klangs. Wenn ich selbst ein französisches Lied singe, kann ich natürlich jeglichen Bezug zwischen französischer Sprache und Musik verstehen, das geht bis hin zu Debussy, es gibt eine natürliche Verbindung zwischen beidem, es ist sehr schön, das beobachten zu können, das lehrt mich einiges.
Sie haben ja schon viele der Lieder gehört, die für das Projekt aufgenommen wurden. Was ist Ihr Eindruck – entspricht das dem, was Sie erwartet hatten? Und wie unterscheiden sich die Lieder aus den verschieden Ländern?
Das Projekt begleitet mich schon seit mehr als zehn Jahren. Am Anfang stand ein Auftrag eines Museums aus Houston. Sie wollten mit einigen französischen Künstlern wie mir zusammenarbeiten und haben gefragt, was man in einem Museum machen könnte. Ich habe ihnen daraufhin mein Lullaby-Projekt vorgestellt. Das Projekt wurde nicht realisiert, aber dank des Ensemble Modern ist es sozusagen zu mir zurückgekehrt, und ich bin sehr glücklich darüber. Ich sage Ihnen auch warum: In diesen zehn Jahren hat sich meine eigene Wahrnehmung des Themas geändert. Gerade jetzt sehe ich manches zurückkehren, ich lerne vieles, und es gibt vieles, was ich nicht vorhersehen konnte. Zum Beispiel, und das unterstützt das, was ich eben hinsichtlich des Tabus, ja fast der Zensur der Melodie geäußert habe, dass viele Menschen fast schon Angst haben zu singen, dass sie extrem schüchtern sind. Ich selbst habe das auch schon in Situationen mit Freunden erfahren. Das ist schon komisch: Wenn ich ihnen erzähle, dass ich gerade ein Projekt zum Thema Lullaby mache und sie zum Beispiel am Telefon bitte, einfach mal was zu singen, dann kommt als erste Reaktion immer eine Schüchternheit, ein leichtes Schamgefühl. Ich dachte ja, Gesang gehört zu jedem, aber das stimmt nicht. Es gibt viele Menschen, die nicht singen und auch keine Erinnerungen an Gesang in ihrer Kindheit haben. Das hängt von den Generationen ab. Meine eigene Generation reagiert im Allgemeinen sehr schnell. Die jüngeren Leute, auch meine eigenen Enkel, konnten nicht sofort auf meine Aufforderung antworten. Sie brauchten Zeit, mussten nachdenken. Ich konnte also feststellen, dass – geht man also tatsächlich davon aus, wie ich vorhin sagte, dass das Lullaby so etwas wie das Herz der Musik ist – es das im erwachsenen Alter auch bleibt, und zwar auch für Nichtmusiker. Aber das ist in gewisser Art etwas Verstecktes, Sanftes, etwas, was die Leute berührt und sie lächeln macht. Das kommt alles nicht sofort, unmittelbar. Die Antworten kommen nicht sofort. Gerade die ersten Aufnahmen enthalten immer Reaktionen wie Zögern oder Lachen, all das psychologische Rundherum. Meistens fangen die Leute zwei, drei, vier Mal neu an. Ich nehme aber in der Regel bewusst die allererste Fassung mit jedem ›äh‹ und ›hihihi‹ und ›nein, nein, nein‹, bevor das Lied beginnt. Gerade das finde ich besonders schön. Anfangs hatte ich ein etwas reineres Konzept, aber jetzt behalte ich gern die ganzen »Unfälle«, die es am Anfang gibt. Sie sind psychologisch so stark, sie erzählen so viel Emotionales, Affektives.
In welcher Form benutzen Sie die Aufnahmen? Werden alle individuell behandelt, oder wie darf man sich das vorstellen?
Das ist schwer zu beantworten, weil eine komplexe Technologie dahintersteht. Aber die Idee ist, eine Art Melodiewolke zu schaffen, in der mittels eines Computersystems Beziehungen geschaffen werden. Das heißt zum Beispiel, von einem Gesang zum anderen zu gelangen durch Modifikationen. Ich bin ja kein Musikethnologe, ich bin Komponist, Schöpfer von Musik. Mich interessieren die Transformationen. Das System, das im Frankfurt LAB zum Einsatz kommt, ist ein sehr komplexes mit 64 Lautsprechern und einer Projektion von Flugformationen von Vögeln. Das wird eine Art Übermelodie schaffen, wenn man es so nennen kann. Etwas Flüchtiges, etwas, das Transformationen unterworfen ist, ganz eben wie der natürliche Flug von Vögeln. Das ist in Konstruktion, wir arbeiten an zahlreichen Arten, die Melodien zu transformieren oder sie zu bewahren, wie sie sind, oder sie mit ganz neuem Leben zu füllen. Die Möglichkeiten sind unendlich.
Welche Rolle spielt dabei das IRCAM?
Wir brauchten ja Werkzeuge. In Thierry Coduys habe ich einen wunderbaren Ingenieur an der Seite. Im IRCAM arbeiten er und die anderen gemeinsam an Prozessen die ich festgelegt habe. Die haben viele Möglichkeiten, aber manches lässt sich auch einfach nicht lösen. Zum Beispiel hatte ich erst eine ganz einfache Idee, die sich aber nicht realisieren ließ, der bestentwickelten künstlichen Intelligenz, die es heute gibt, zum Trotz. Ich habe erstaunliche Sachen dadurch gelernt. Ich stand dabei in einem steten Dialog mit dem IRCAM. Die arbeiten ja nicht alleine vor sich hin, ich bin immer involviert. Sie sind großartig dort.
Werden wir Lieder wiedererkennen?
Ich denke schon! Das ist aber eine Arbeit, die ich noch nicht gemacht habe. Ich bin also dabei, etwas zu erfinden und das finale Resultat niederzuschreiben. Das Tolle ist, dass niemand weiß, wie man es machen soll, weil es eben noch niemand gemacht hat. Ein Orchesterstück – schlecht oder gut – kann ich komponieren. Dieses Projekt aber, ist wirklich ein Raum der Erfindung, der Freiheit. Man kann das vielleicht ganz plastisch mit einem gemalten Bild vergleichen, bei dem die verwendeten Materialien und das Motiv zwar vertraut sind, das aber auf völlig neue Art konstruiert ist. Aber im Grunde ist es vor allem ein sanftes Projekt, kein wildes. Die Leute sollen sich auf den Boden legen dürfen und einschlafen. Es ist ein Projekt für Kinder, für Großeltern und überhaupt für jeden. Es ist aber deswegen kein Kinderprojekt! Es richtet sich an alle, sagen wir, von zwei bis 100 Jahren. Deshalb heißt das Projekt auch ›Lullaby‹ und nicht ›Wiegenlieder‹. ›Lullaby‹, das kann für jemanden in einem Vorort von Paris auch Rap sein. Die Idee ist auf jeden Fall, dass das Projekt in Paris eine ganz andere Klanglichkeit hat als in Frankfurt oder Tokyo. Weil die Kulturen so unterschiedlich sind. Mein Traum wäre, eine Art klingende Kartografie zu haben.
Wieso klingt das in Paris anders als Frankfurt?
Naja, ganz einfach: In Frankfurt sind mehr Deutsche als in Paris. Deshalb gibt es eine andere Klanglichkeit dort. Ich möchte gern die unterschiedlichsten Menschen berühren. In Paris gibt es ja nicht nur Franzosen, sondern auch Chinesen, Araber, sogar Engländer! Wenn also ein Chinese aus Paris mitmacht, dann bringt er vielleicht eine chinesische Melodie und damit eine andere Farbe hinein. Das wird man sehen. In Frankfurt haben wir vermutlich mehr Deutsche, aber dafür auch mehr Türken als in Paris. Wenn es denn gelingt, die Türken zu erreichen ... Das ist das Problem: Wie findet man sie? Auf jeden Fall wird es Überraschungen geben. Wenn die App zum Sammeln der Lieder sich gut verbreitet, wird es besondere Farben geben, das wird die Erfahrung zeigen.
Wie kombinieren Sie das Ganze mit der Musik, die live gespielt wird?
Daran arbeite ich noch. Die Instrumente sind für mich wie Stimmen, ich mache da keine Unterscheide. Ich möchte das Ensemble Modern gern mit seinen Instrumenten singen lassen, sie sollen eine Art Interventionen rund um die Melodien spielen. Ideen dafür habe ich schon ...
Und welche Rolle hat dabei Claus Guth?
Auch er muss etwas ganz Neues erfinden. Vielleicht etwas Plastisches, eine Art Dramaturgie des Raums, das wird eine Zusammenarbeit mit seinem Team. Ich sehe keine Inszenierung im herkömmlichen Sinn, sondern eher etwas, das der Arbeit eines Bildhauers vergleichbar ist. Vielleicht gibt es etwas mit Bildern oder Video. Das ist schwierig, weil wir es noch nie gemacht haben.
Übersetzung aus dem Französischen: Ruth Seiberts