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Text: Surrogate Cities bei den KunstFestSpielen Herrenhausen

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Surrogate Cities bei den KunstFestSpielen Herrenhausen

Interview mit Ingo Metzmacher

Der Orchester-Zyklus ›Surrogate Cities‹ von Heiner Goebbels, seit seiner Uraufführung 1994 überall auf der Welt erfolgreich aufgeführt, entwirft das musikalische Porträt einer imaginären Metropole. Das Werk bezieht seine Impulse aus Texten, Zeichnungen und Strukturen von Stadtplänen, verwendet Sounds aus Berlin und New York, aus Tokio und St. Petersburg oder trifft unvermittelt auf historisch-musikalische Bruch- und Fundstücke. Der Sampler spielt als digitaler Speicher dieser akustischen Materialien eine zentrale Rolle. Am 21. Mai 2017 ist ›Surrogate Cities‹ bei den KunstFestSpielen Herrenhausen mit dem Ensemble Modern Orchestra zu erleben, das sich erstmals für dieses Projekt aus dem Ensemble Modern, Musikerinnen und Musikern der Jungen Deutschen Philharmonie sowie der Internationalen Ensemble Modern Akademie zusammensetzt. Vokalist David Moss und die Jazzsängerin Jocelyn B. Smith geben den erzählerischen Parts ihre Stimme. Das Ensemble Modern sprach mit Ingo Metzmacher, Intendant der KunstFestSpiele Herrenhausen und Dirigent der Produktion über die Idee zum Projekt, den ungewöhnlichen Veranstaltungsort und seine Verbindung zum Ensemble Modern.

Ensemble Modern: Wie kam die Idee zu ›Surrogate Cities‹ bei den KunstFestSpielen 2017 zustande?
Ingo Metzmacher: Seit ich Intendant der KunstFestSpiele bin, bin ich auf der Suche nach größeren Räumen, Industriehallen in Hannover, um den barocken Aufführungsorten in Herrenhausen etwas entgegenzusetzen. Ich erhielt den Tipp, mir einmal die Fabrik von Volkswagen Nutzfahrzeuge in Hannover anzuschauen. Das ist ein riesiger Komplex, in dem über 13.000 Menschen arbeiten. Dort gibt es eine Halle, in der regelmäßig die Betriebsversammlungen mit ca. 5000 Leuten abgehalten werden. Sie lässt sich innerhalb kürzester Zeit umwandeln. Glücklicherweise stießen wir auf Seiten von Volkswagen Nutzfahrzeuge auf großes Interesse, dort einmal etwas ganz anderes zu veranstalten. Mein Dramaturg Stephan Buchberger, der ja viele Jahre für das Ensemble Modern und mit Heiner Goebbels gearbeitet hat, hatte gleich ›Surrogate Cities‹ im Kopf. Das hat mehrere Gründe: Wir wollten nicht ein klassisches Konzert im herkömmlichen Sinne machen, sondern ein Stück, bei dem der »Sound« in die Umgebung passt, wie es in ›Surrogate Cities‹ der Fall ist. Hier spielt der Sampler als Speicher konkreter Klänge eine große Rolle und das Orchester wird elektronisch verstärkt. Auch thematisch ist die Fabrik – eine »Stadt in der Stadt« – sehr passend für ›Surrogate Cities‹. Wir sind dann mittendrin! Neben uns steht ein Güterzug, man sieht die Karosserieteile auf dem Band und in Containern. Mir gefallen solche Umgebungen. Für uns ist es sehr interessant, aus Herrenhausen heraus an einen Ort zu gehen, der ganz anders ist.

EM: Das ist also weniger einem konkreten Festivalthema geschuldet, sondern mehr der grundsätzlichen Ausrichtung des Festivals, in neue Räume vorzustoßen?
IM: Wir wollen jedes Jahr etwas Großes machen, das ganz Hannover anspricht. Wir haben im ersten Jahr 2016 die ›Gurre-Lieder‹ gemacht, mit denen wir die Stadt in Bewegung gebracht haben. Für das zweite Jahr scheint uns ›Surrogate Cities‹ genau passend.

EM: ›Surrogate Cities‹ ist eine Collage aus Stadtelementen, Texten, klassischen und elektronischen Klängen. Inwiefern siehst Du das Spannende in dieser ganz konkreten Konstellation in diesem Werksgebäude, inmitten der Produktionsmaschinen?
IM: Volkswagen Nutzfahrzeuge hält für uns zwar die Produktion nicht an, aber wir dürfen in der Produktionspause zwischen Freitagabend und Montag früh in diesen Bereich der Fabrik. So etwas hat es dort zuvor noch nicht gegeben: Mitten hinein zwischen die Produktionsprozesse kommt eine ganz andere »Mannschaft« in die Halle, die gewissermaßen auch etwas »zusammenbaut«: ein Stück, das dann dort aufgeführt wird. Das Montagehafte der Musik kommt der Sache natürlich sehr entgegen. Dass ›Surrogate Cities‹ so viele Elemente vereint, passt überhaupt sehr gut zu unserem Festival. Wir versuchen, Dinge zusammenzubringen, Verbindungen zu suchen und Zusammensetzungen zu schaffen, die man sonst nicht so oft sehen und hören kann.

EM: Ist das ein Kernmerkmal, das die Intendanz Metzmacher in Herrenhausen prägen soll? Oder gibt es weitere Kernbereiche, die Dir wichtig sind?
IM: Wir beide – Stephan Buchberger und ich – haben unsere Wurzeln in der Musik, denken alles von der Musik aus, wobei wir auch in allen anderen Kunstrichtungen nach Verbindungen suchen. In den letzten Jahren zeichnet sich ganz klar ab, dass die Grenzen zwischen den Sparten immer weiter verschwinden. Ich habe mich immer dagegen gewehrt, dass die Musik, die ja überall gebraucht wird – im Film, Theater, beim Tanz, in der Performance – nur eine notwendige Randerscheinung ist. Denn für mich ist Musik etwas sehr Bedeutsames und inhaltlich wichtig. Wir gehen umkehrt von der Musik aus in die anderen Bereiche hinein. Diese Idee ist zentral. Auch ›Surrogate Cities‹ wendet sich von der Musik aus in andere Textbereiche, Deutungsbereiche der Stadt. »Musikalisch« kann für mich auch heißen, dass gar nichts erklingt. Es gibt Aufführungen, in denen ein besonderes Timing gefragt ist, wo sich etwas wie eine Art Musik verdichtet obwohl keine Musik erklingt. Oder Aufführungen, in denen Musik nur sparsam verwendet wird, aber eine ganz wichtige Rolle spielt. Letztes Jahr zum Beispiel haben wir ›Singspiele‹ von Maguy Marin gezeigt, bei der ein Darsteller eine Stunde lang Gesichter und Kleider wechselt und dabei ein Schubert-Lied summt. Es kann aber auch ein Tanzabend sein, in dem die Musik eine sehr anregende Rolle spielt und nicht nur irgendeine Musik ist, zu der man tanzt. Es kann sich um eine Installation handeln, in der man sich frei bewegen kann, in der man von Musik umgeben ist. Wir haben letztes Jahr ein Nachtkonzert gemacht, hinterher die Türen aufgemacht und die Leute in den Morgen hinausgelassen, wo die Vögel sangen.

EM: Sind diese Kernpunkte dem Tandem Metzmacher/Buchberger geschuldet oder ist auch der Raum Hannover entscheidend, dass es zu einer solchen inhaltlichen Ausrichtung gekommen ist?
IM: Ich glaube der Raum lässt alles Mögliche zu. Wir haben in Herrenhausen zwei Räume: einen Raum mit einem sehr historischen Kontext und einen funktionalen Theaterraum. Sie sind beide nicht sehr groß. Wenn man etwas Größeres machen will, muss man rausgehen aus Herrenhausen. Wir brauchen außerdem eine Balance zu der historischen Umgebung in Herrenhausen, wenn wir wirklich in die Stadt hinein wirken wollen. Der Ausgangspunkt Musik ist aber tatsächlich dem Tandem geschuldet.

EM: Du hast bei dem Festival und auch speziell bei ›Surrogate Cities‹ eine Doppelfunktion als Veranstalter und Künstlerischer Leiter der Produktion. Wie fühlt sich das an?
IM: Gut! Ich möchte, dass die Leute mich auch erleben können im Festival. 2017 werde ich sogar zwei Projekte dirigieren. Es wäre ja eher verwunderlich, wenn ich im Festival als Dirigent nicht vorkäme.

EM: Definitiv. Aber gibt es da ein Spannungsfeld – sei es anregend oder vielleicht auch belastend?
IM: Man ist noch näher dran. Man initiiert etwas, das tatsächlich realisiert wird. Wenn man ansonsten engagiert wird, muss man meistens Kompromisse machen und hat die Sache nicht vollständig in der Hand. Insofern ist mir das schon sehr lieb. Belastend ist es nicht, da ich ein hervorragendes Team habe, das mir den Rücken freihält.

EM: Inwiefern eignet sich ein Klangkörper wie das Ensemble Modern Orchestra besonders für eine solche Produktion?
IM: Neben der Erfahrung mit der Musik Heiner Goebbels ist auch die Neugier und Bereitschaft da, ein Werk an solch einem Ort aufzuführen. Es ist ein Abenteuer, das es in dieser Form in Hannover noch nie gegeben hat.

EM: Eine Besonderheit ist sicherlich auch, dass wir auf der einen Seite die erfahrenen Mitglieder des Ensemble Modern haben, auf der anderen Seite die derzeitigen und ehemaligen Stipendiaten der Internationalen Ensemble Modern Akademie und die Musiker der Jungen Deutschen Philharmonie. Es wird in unterschiedlichen Einstudierungstempi gearbeitet, mit vorgelagerten Proben, um die jungen Musiker rasch ins Gesamtgefüge einzubinden. Inwiefern hat eine solche Konstellation auch Auswirkungen auf deine Arbeitsweise?
IM: Auch das ist eine Fortsetzung dessen, was wir im ersten Jahr gemacht haben. Wir haben mit der NDR Radiophilharmonie und dem Orchester der Musikhochschule Hannover zusammengearbeitet. Das hat sehr gut funktioniert. Natürlich habe ich mit den Studierenden mehr gearbeitet bzw. das professionelle Orchester hat sich die Zeit genommen, die Studenten in Gruppen- und Teilproben anzuleiten. Es ist ein schöner Prozess, denn Erfahrung tut sich mit jugendlichem Enthusiasmus und der Neugier zusammen


EM: Es ist sicherlich auch eine Besonderheit, dass Du zur ›Fabrik‹ in der Schwedlerstraße eine enge Beziehung hast, zum Ensemble Modern und zur Jungen Deutschen Philharmonie.
IM: Das Ensemble Modern ist meine musikalische Heimat. Und eines der ersten großen Orchesterprojekte, die ich gemacht habe, habe ich mit der Jungen Deutschen Philharmonie gemacht. Ich bin sehr verwurzelt in deren Geschichte: Das Ensemble Modern als ein Ort, an dem sich damals in den 1980er Jahren junge Musiker trafen, die einen anderen Weg gehen wollten, ist für mich ganz entscheidend und wichtig für mein musikalisches Leben. Ich wage mir gar nicht vorzustellen, wie mein Weg verlaufen wäre, wenn es das Ensemble Modern nicht gegeben hätte. Dass ich meine ersten Schritte als Dirigent beim Ensemble Modern tun konnte, ist für mich absolut prägend gewesen. Wir haben ja auch schon letztes Jahr mit dem Ensemble Modern die KunstFestSpiele eröffnet. Ich finde es sehr schön, dass sich das jetzt in dieser vergrößerten Form fortsetzt.

EM: Darüber freuen auch wir uns sehr – auch über die gemeinsam entwickelte Idee, bei dieser Gelegenheit alle in der Frankfurter ›Fabrik‹ ansässigen Institutionen zusammenzuführen. Herzlichen Dank für die Initiative und für das Gespräch.

Das Gespräch führte Christian Fausch, Künstlerischer Manager und Geschäftsführer Ensemble Modern.

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