Pygmalia
Ein Gespräch mit Manos Tsangaris
Das Werk ist untrennbar mit den Voraussetzungen seiner Aufführung verbunden: Für Manos Tsangaris zählen der Raum und die Wahrnehmungsbedingungen des Publikums zu den wesentlichen Elementen, die »mitkomponiert« werden wollen. Das spiegelt sich auch in seinem neuen Musiktheaterwerk ›Pygmalia – Ein Musiktheater mit wechselnder Publikumsperspektive für zwei Stimmen und doppelchöriges Ensemble‹, das von der Alten Oper in Auftrag gegeben wurde und durch das Ensemble Modern am 3. Februar 2022 im Mozart Saal der Alten Oper Frankfurt uraufgeführt wird. Raoul Mörchen sprach mit Manos Tsangaris über das neue Werk, bei dem das Publikum auf beiden Seiten der Bühne Platz nimmt, die Seiten wechselt und Musik, Szene und Videoprojektionen jeweils neu erlebt.
Raoul Mörchen: Im Titel deines neuen Stücks begegnet uns eine Person, die wir bisher nur als Mann kennen. Wer ist Pygmalia?
Manos Tsangaris: Pygmalia ist die Übersetzung ins Weibliche von Pygmalion, dem mythischen Bildhauer der griechischen Antike. Pygmalia ist als modernes Ebenbild nicht nur Bildhauerin, sondern dazu auch noch Videokünstlerin, vor allem aber ist sie die Männer leid und darum erschafft sie sich einen eigenen. Das ist ein Prozess einer Projektion: Ein Gegenüber wird zum Leben erweckt.
RM: Die erste Überraschung allerdings erlebt das Publikum schon, bevor es Pygmalia kennenlernt, denn es wird von dir auf zwei einander gegenüberliegende Seiten geschickt, mit der Bühne in der Mitte.
MT: Und auf der Bühne ist das Ensemble ebenfalls zweigeteilt und jeweils einer der beiden Publikumshälften zugewandt. Diese Symmetrie, diese Spiegelung ist auch inhaltlich angelegt. Ich denke Musiktheater grundsätzlich als ein Forum, in dem Modelle der Wirklichkeit und des Daseins probiert werden können. Einzelnen Zuschauerinnen und Zuschauern wird ermöglicht, unterschiedliche Perspektiven einzunehmen. Und diese Fähigkeit, unterschiedliche Perspektiven wahrzunehmen und die Ereignisse auf eigene Weise zu synthetisieren, hat einen Bezug zum wirklichen Leben. Schon lange interessiert mich diese Idee, dass die wechselnden Blickrichtungen, die Intersubjektivität, das Dazwischen zwischen den Ereignissen zum Thema von Musiktheater werden – statt der pseudo-objektivierten Situation des klassischen Guckkastens, wo das Potenzial der Rezeption nicht wirklich zum Tragen kommt.
RM: Akira Kurosawas Film ›Rashomon‹ von 1950 ist ein berühmtes Beispiel für diese Idee, eine Geschichte aus verschiedenen Blickwinkeln zu betrachten, und auch Ridley Scott tut das in seinem aktuellen Kinofilm ›The Last Duel‹. Da geht es um die Frage nach Wahrheit.
MT: Mir reicht es, erst einmal herauszufinden, auf welche Art und Weise Wirklichkeit generiert wird. Denn wir generieren sie ja selbst. Wenn wir geboren werden, lernen wir, dass die Welt nicht kopfsteht, so wie die Retina sie uns zunächst sehen lässt, oder dass der Kopf der Mutter nicht wächst, bloß weil sie sich zu uns in den Kinderwagen beugt, und schrumpft, wenn sie sich von uns entfernt. Wir lernen das, indem wir Kontexte erkennen. Das ist ein kreativer Prozess. Und diese Kontextualisierung ist für mich das Merkmal von Musiktheater überhaupt. Dennoch bin ich dankbar für den Querverweis zum Film, denn meine Arbeit speist sich stark aus meiner und unser aller Erfahrung als Schauende. Die Perspektivwechsel der Kamera, die Schnitte und das Prinzip der Montage, das wird sozusagen bei mir im Raum vollzogen. Nur mit einem großen Unterschied: Wir sitzen nicht vor einer 2-D-Wand, tragen auch keine VR-Brillen, sondern sind als leibliche Wesen in einem echten Raum anwesend, was eine viel umfänglichere Form von Wahrnehmungsbezügen ermöglicht.
RM: Eine Geschichte von einem Menschen, der selbst Menschen erschafft, erinnert an den Mythos vom Golem, an Frankenstein oder an dunkle Fantasien von KI-Forschern.
MT: Die Geschichte hier ist eine ganz andere. Ihre Quelle sind die ›Metamorphosen‹ des Ovid. Und da gibt es erst mal eine Vorgeschichte: Im zehnten Buch erzählt Ovid von Orpheus und Eurydike. Orpheus will sie aus dem Hades retten, dreht sich um und verliert sie ein zweites Mal. Danach wird Orpheus zum Künstler, zum Dichter und Sänger, der sprichwörtlich Steine erweichen und die Bäume zum Tanzen bringen kann. Aber er wird auch zu einem Verächter der Frauen. Und danach erzählt Ovid von Pygmalion, der mit den Frauen nichts mehr anfangen kann und sich deshalb eine eigene, ideale Frau erschafft. Ich habe in einem früheren Stück, den ›Abstract Pieces‹ von 2018, das Ganze umgedreht: Orpheus gelingt es da, Eurydike aus der Unterwelt zu befreien, und die beiden leben als Paar zusammen. Doch wo die Liebe sich bewähren soll, scheitert sie. Nur das, was schön weit weg ist, was wir projizieren können, vermag idealen Ansprüchen zu genügen. In den ›Abstract Pieces‹ verlässt Eurydike Orpheus. Ich gebe ihr eine Stimme und auch Entscheidungsgewalt. Darum habe ich auch jetzt aus Pygmalion eine Frau gemacht. Und die erschafft ihren Idealmann mit moderner Bild- und Videotechnik. So wie Millionen von Menschen auf Partnerportalen im Internet oder bei Tinder. Es geht also um die Frage: Wie wird Wirklichkeit generiert? Und inwieweit tappen wir immer wieder in die Fallen unserer Illusionen?
RM: Schauen wir uns deswegen nun die Geschichte der Pygmalia gleich zweimal hintereinander aus unterschiedlichen Blickwinkeln an?
MT: Wir schauen nicht nur auf die Bühne, die Publika schauen auch einander an. Nach einem Durchlauf wechseln sie die Seiten. Beim zweiten Durchlauf wird dann, was eben Einleitung war, zur Fortsetzung. Und ich sehe dort, wo ich eben gesessen habe, einen anderen oder eine andere. Darin stecken die Fragen: Was habe ich eben erlebt, was erlebe ich jetzt, was produziert mein Gedächtnis aus einem veränderten Blickwinkel? Wie reichert sich Erinnerung an und welchen Einfluss hat das auf meine Wahrnehmung? Und was bedeuten Vordergrund und Hintergrund? Denn was sich eben vor etwas abgespielt hat, steht auf einmal dahinter und umgekehrt.
RM: Die Komplexität der Bezüge, die daraus resultiert, legt nahe, dass das Werk in sich sehr genau organisiert ist. Der Blick in die Partitur zeigt aber, dass du den Interpretinnen und Interpreten große Freiräume gewährst und das Stück aus vielen Einzelstücken besteht, die frei kombiniert werden können.
MT: Das stimmt. Aber die Gesamtsteuerung des Stücks, die Diktion, die Richtung ist sehr genau komponiert. Es gibt bestimmte Knotenpunkte, wo alles sich immer wieder zusammenfindet. Dazwischen gibt es viele Situationen, in denen Musikerinnen und Musiker direkt miteinander interagieren, allerdings mit sehr konkret definiertem Material, das wie ein Fundus zur Auswahl gestellt wird. Da geht es um Freiheit, Lebendigkeit, aber auch um Verantwortung. Es steckt aber auch eine rein praktische Überlegung dahinter. Das Licht spielt eine entscheidende Rolle im Stück, und man kann darum nicht überall Noten lesen. Deswegen empfiehlt es sich, mit Modulen und Elementen zu arbeiten, die auf die eine oder andere Art und Weise frei zur Verfügung stehen. Wie das Stück abläuft, ist für das Publikum übrigens direkt ersichtlich und wird auch von den Akteurinnen und Akteuren immer wieder durch Ansagen und Instruktionen kommentiert. Es gibt keine Dekoration, die einem den Blick verstellen würde auf eine Maschinerie dahinter. Der Raum, das Licht und die Technik liegen offen, man schaut direkt in das Innenleben von ›Pygmalia‹ hinein. Man sieht gewissermaßen das Stück und gleichzeitig dessen Making-of.
RM: Im klassischen Musiktheater und der Oper gibt es Menschen, die spielen Instrumente und sitzen verdeckt in einem Graben, und die Menschen auf der Bühne, die wir sehen, singen und schauspielern. Bei dir, nicht nur in diesem Stück, gibt es diese Trennung nicht.
MT: Alle Musikerinnen und Musiker sind Performer. Als Spezialisten für ein bestimmtes Instrument führen sie zusätzlich Aktionen im Raum aus, die aber ebenfalls instrumental gedacht sind. Die Videoprojektionen auf den eigenen Körper oder die diversen mobilen Lichtquellen, all diese technischen Mittel werden letztlich musikalisch verwendet und in Bezug zum menschlichen Körper und zu einer bestimmten Ausdrucksmöglichkeit gesetzt. Alles ist Musik und musikalisch.
RM: Herzlichen Dank für das Gespräch.